Abweichungsprüfung

Hinweis: Die hier dargestellte Entscheidungssammlung stellt eine Auswahl an Rechtsprechung zu den jeweiligen Themenbereichen dar. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Auflistung dient lediglich der Information. Eine eigene Wertung ist hiermit nicht bezweckt. Hervorgehobene Textteile dienen nur der Übersichtlichkeit.

Allgemeines

BVerwG, Urteil vom 01.04.2015, Aktenzeichen: 4 C 6/14

Das Bundesnaturschutzgesetz (§ 63 Absatz 2 Nr. 5) räumt einer nach § 3 UmwRG anerkannten Naturschutzvereinigung Mitwirkungsrechte ein, wenn ein Projekt im Wege einer habitatschutzrechtlichen Abweichungsentscheidung nach § 34 Absatz 3 bis 5 BNatSchG zugelassen oder durchgeführt werden soll, weil die gemäß § 34 Absatz 1 BNatSchG gebotene Verträglichkeitsprüfung ergeben hat, dass das Projekt zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebiets führen kann. Unionsrecht vermittelt der Naturschutzvereinigung keinen Anspruch, bereits im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung beteiligt zu werden (Rn. 11, 32).

EuGH, Urteil vom 20.09.2007, Rechtssache: C-304/05

Die in der FFH-Richtlinie (Artikel 6 Absatz 4) verankerte Ausnahmemöglichkeit bei einer Verträglichkeitsprüfung mit negativem Ergebnis kommt nur zur Anwendung, nachdem die Auswirkungen eines Plans oder Projekts gemäß Artikel 6 Absatz 3 erforscht wurden. Denn die Kenntnis der Verträglichkeit mit den für das fragliche Gebiet festgelegten Erhaltungszielen ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Anwendung von Artikel 6 Absatz 4, da andernfalls keine Anwendungsvoraussetzung dieser Ausnahmeregelung geprüft werden kann. Die Prüfung etwaiger zwingender Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses und der Frage, ob weniger nachteilige Alternativen bestehen, erfordert nämlich eine Abwägung mit den Beeinträchtigungen, die für das Gebiet durch den vorgesehenen Plan oder das vorgesehene Projekt entstünden. Außerdem müssen die Beeinträchtigungen des Gebiets genau identifiziert werden, um die Art etwaiger Ausgleichsmaßnahmen bestimmen zu können. Wenn zuständige nationale Behörde über diese Angaben nicht verfügt, kann sie sich nicht auf die Ausnahmevorschrift berufen (Rn. 83 f.).

Interessenabwägung

BVerwG, Urteil vom 23.04.2014, Aktenzeichen: 9 A 25/12

Das Gericht hat die Richtigkeit einer nach Bundesnaturschutzgesetz (§ 34 Absatz 4 Satz 2) eingeholten die Planfeststellungsbehörde nicht bindenden Stellungnahme der EU-Kommission grundsätzlich nicht zu überprüfen. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist der Planfeststellungsbeschluss und nicht die Stellungnahme der Kommission, die im Übrigen die Planfeststellungsbehörde nicht bindet. Für den Streitgegenstand des gerichtlichen Verfahrens könnten Informationsdefizite der Kommission allenfalls dann erheblich sein, wenn eine im Ergebnis abweichende Stellungnahme und eine demzufolge abweichende Planungsentscheidung ernsthaft in Betracht gekommen wäre (Rn. 87).

BVerwG, Urteil vom 09.07.2009, Aktenzeichen: 4 C 12/07

Kohärenzsicherungsmaßnahmen können das Gewicht des Integritätsinteresses mindern. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass sie einen Beitrag auch zur Erhaltung der Integrität des FFH-Gebiets leisten.

BVerwG, Urteil vom 09.07.2009, Aktenzeichen: 4 C 12/07

Die Gewichtung des öffentlichen Interesses muss den Ausnahmecharakter einer Abweichungsentscheidung gemäß FFH-Richtlinie (Artikel 6 Absatz 4) berücksichtigen. Nicht jedem Vorhaben, das das Erfordernis der Planrechtfertigung erfüllt, kommt ein besonderes Gewicht zu (Rn. 15).

BVerwG, Urteil vom 17.01.2007, Aktenzeichen: 9 A 20/05

In der Abweichungsentscheidung muss das Gewicht der für das Vorhaben streitenden Gemeinwohlbelange auf der Grundlage der Gegebenheiten des Einzelfalls nachvollziehbar bewertet und mit den gegenläufigen Belangen des Habitatschutzes abgewogen worden sein. Die Bindungswirkung der gesetzlichen Bedarfsfeststellung entzieht sich grundsätzlich einer gerichtlichen Überprüfung. Andererseits präjudiziert diese Bindungswirkung nicht in jeder Hinsicht eine auf der Ebene der Planfeststellung erforderliche Abweichungsprüfung. Mit welchem Gewicht der vom Gesetzgeber festgestellte Bedarf in Konkurrenz mit den gegenläufigen Belangen zu Buche schlägt, hängt von der konkreten Planungssituation ab, deren Probleme die Planfeststellung zu bewältigen hat (Rn. 131-134).

Alternativenprüfung

BVerwG, Urteil vom 28.03.2013, Aktenzeichen: 9 A 22/11

Nur gewichtige naturschutzexterne Gründe können den Ausschluss einer FFH-Alternativlösung rechtfertigen. Der Vorhabenträger darf von einer ihm technisch an sich möglichen Alternative erst Abstand nehmen, wenn diese ihm unverhältnismäßige Opfer abverlangt oder andere Gemeinwohlbelange erheblich beeinträchtigt. Demnach können bei der Trassenwahl auch finanzielle Erwägungen ausschlaggebende Bedeutung erlangen. Ob Kosten außer Verhältnis zum nach FFH-Richtlinie (Artikel 6) festgelegten Schutzregime stehen, ist am Gewicht der beeinträchtigten relevanten Schutzgüter zu messen. Richtschnur hierfür sind die Schwere der Gebietsbeeinträchtigung, Anzahl und Bedeutung etwa betroffener Lebensraumtypen oder Arten sowie der Grad der Unvereinbarkeit mit den Erhaltungszielen.

Der Vorhabenträger braucht sich nicht auf eine Alternativlösung verweisen zu lassen, wenn sich die naturschutzrechtlichen Schutzvorschriften am Alternativstandort als ebenso wirksame Zulassungssperre erweisen wie an dem von ihm gewählten Standort. Zudem darf die Alternativlösung verworfen werden, wenn sie sich aus naturschutzexternen Gründen als unverhältnismäßiges Mittel erweist. Schließlich braucht sich ein Vorhabenträger nicht auf eine Planungsvariante verweisen zu lassen, die auf ein anderes Projekt hinausläuft.

Berühren sowohl die planfestgestellte Lösung als auch eine Planungsalternative FFH-Gebiete, so ist im Rahmen einer Grobanalyse allein auf die Schwere der Beeinträchtigung nach Maßgabe der Differenzierungsmerkmale des Artikel 6 der FFH-Richlinie abzustellen, d.h. es ist nur zu untersuchen, ob Lebensraumtypen des Anhangs I oder Tierarten des Anhangs II der FFH-Richtlinie beeinträchtigt werden und ob die beeinträchtigten Lebensraumtypen prioritär oder nicht prioritär sind. Innerhalb der genannten Gruppen ist nicht nochmals nach der Wertigkeit und der Anzahl der betroffenen Lebensraumtypen oder Arten sowie nach der jeweiligen Beeinträchtigungsintensität zu differenzieren.

Die Prüfung einer zumutbaren Alternative gemäß Bundesnaturschutzgesetz (im Sinne des § 34 Absatz 3 Nr. 2) darf auch dann, wenn auf den vorgelagerten Planungsstufen noch keine korridorübergreifende Natura 2000-Prüfung durchgeführt werden musste, nicht auf den Planungskorridor beschränkt werden, sondern hat - unter summarischer Würdigung des jeweiligen Beeinträchtigungspotenzials - Trassen in Alternativkorridoren einzubeziehen (Rn. 105-106).

BVerwG, Urteil vom 09.07.2009, Aktenzeichen: 4 C 12/07

Der Begriff der Alternative des Artikel 6 Absatz 4 der FFH-Richtlinie ist aus der Funktion des durch Artikel 4 begründeten Schutzregimes zu verstehen. Er steht in engem Zusammenhang mit den Planungszielen, die mit einem Vorhaben verfolgt werden. Lässt sich das Planungsziel an einem nach dem Schutzkonzept der Habitat-Richtlinie günstigeren Standort (Standortalternativen) oder mit geringerer Eingriffsintensität (Ausführungsalternativen) verwirklichen, so muss der Projektträger von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Ein irgendwie gearteter Gestaltungsspielraum wird ihm nicht eingeräumt. Anders als die fachplanerische Alternativenprüfung ist die FFH-rechtliche Alternativenprüfung nicht Teil einer planerischen Abwägung. Der Behörde ist für den Alternativenvergleich kein Ermessen eingeräumt.

Die Anforderungen an den Ausschluss von Alternativen steigen in dem Maß, in dem sie geeignet sind, die Ziele des Vorhabens zu verwirklichen, ohne zu offensichtlichen unverhältnismäßigen Beeinträchtigungen zu führen. Entscheidend ist daher, ob zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses die Verwirklichung gerade dieser Alternative verlangen oder ob ihnen auch durch eine andere Alternative genügt werden kann.

Eine Ausführungsalternative ist vorzugswürdig, wenn sich mit ihr die Planungsziele mit geringerer Eingriffsintensität verwirklichen lassen. Inwieweit Abstriche von einem Planungsziel hinzunehmen sind, hängt maßgebend von seinem Gewicht und dem Grad seiner Erreichbarkeit im jeweiligen Einzelfall ab.

Als Alternative sind allerdings nur solche Änderungen anzusehen, die nicht die Identität des Vorhabens berühren. Von einer Alternative kann dann nicht mehr die Rede sein, wenn sie auf ein anderes Projekt hinausläuft, weil die vom Vorhabenträger in zulässiger Weise verfolgten Ziele nicht mehr verwirklicht werden könnten. Zumutbar ist es nur, Abstriche vom Zielerfüllungsgrad in Kauf zu nehmen. Eine planerische Variante, die nicht verwirklicht werden kann, ohne dass selbständige Teilziele, die mit dem Vorhaben verfolgt werden, aufgegeben werden müssen, braucht dagegen nicht berücksichtigt zu werden (Rn. 33).

BVerwG, Urteil vom 12.03.2008, Aktenzeichen: 9 A 3/06

Anders als die fachplanerische Alternativenprüfung ist die FFH-rechtliche Alternativenprüfung nicht Teil einer planerischen Abwägung. Der Planfeststellungsbehörde ist für den Alternativenvergleich kein Ermessen eingeräumt. Der behördliche Alternativenvergleich unterliegt also einer uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Eine FFH-Alternative ist vorzugswürdig, wenn sich mit ihr die Planungsziele an einem nach dem Schutzkonzept der Habitatrichtlinie günstigerem Standort oder mit geringerer Eingriffsintensität verwirklichen lassen.

In der Alternativenprüfung brauchen Planungsalternativen nur so weitgehend ausgearbeitet und untersucht zu werden, dass sich einschätzen lässt, ob sie für FFH-Schutzgüter ein erhebliches Beeinträchtigungspotenzial bergen. Vergleichbar der durch das planungsrechtliche Abwägungsgebot geforderten allgemeinen Alternativenprüfung wird zur Beurteilung dieser Fragestellung häufig eine bloße Grobanalyse ausreichen. Selbst in Fällen, in denen sich eine genauere Untersuchung als notwendig erweist, lässt sich das Vorhandensein eines erheblichen Gefährdungspotenzials doch jedenfalls einschätzen, ohne die betreffenden Alternativen einschließlich möglicher Schadensminderungs- und Ausgleichsmaßnahmen bis zur Planreife auszuarbeiten und ihrerseits einer vollständigen Verträglichkeitsprüfung zu unterziehen. Ein derartiger Untersuchungsaufwand ginge im Übrigen nicht nur über das Maß des Erforderlichen hinaus, sondern wäre auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und Verwaltungspraktikabilität nicht zu rechtfertigen.

Beim Alternativenvergleich ist zum einen auf die nach Maßgabe der Differenzierungsmerkmale der FFH-Richtlinie (Artikel 6) bestimmte Schwere der Beeinträchtigung abzustellen. In zweiter Hinsicht kommt es darauf an, ob die beeinträchtigten Lebensraumtypen oder Arten prioritär oder nicht prioritär sind (Rn. 169-171).

EuGH, Urteil vom 26.10.2006, Rechtssache: C-239/04

Die Vorschrift des Artikel 6 Absatz 4 der FFH-Richtlinie, in welcher die Möglichkeit vorgesehen ist, trotz negativer Verträglichkeitsprüfung den Plan oder das Projekt unter bestimmten Voraussetzungen zuzulassen, ist eng auszulegen. Daher muss im Rahmen einer Natura 2000-Abweichungsprüfung insbesondere das Fehlen von Alternativlösungen nachgewiesen werden. Voraussetzung ist diesbezüglich, dass alle Alternativen geprüft wurden, die nicht von vornherein ausgeschlossen werden konnten (Rn. 35, 38).

Kohärenzsicherung

BVerwG, Urteil vom 06.11.2013, Aktenzeichen: 9 A 14.12

Der Ausgleich zur Kohärenzsicherung muss nicht notwendig unmittelbar am Ort der Beeinträchtigung erfolgen. Es reicht vielmehr aus, dass die Einbuße ersetzt wird, die das Gebiet hinsichtlich seiner Funktion für die biogeographische Verteilung der beeinträchtigten Lebensräume und Arten erleidet. In zeitlicher Hinsicht muss zumindest sichergestellt sein, dass das Gebiet unter dem Aspekt des beeinträchtigten Erhaltungsziels nicht irreversibel geschädigt wird (Rn. 93).

BVerwG, Urteil vom 12.03.2008, Aktenzeichen: 9 A 3/06

Die Ausgestaltung von Kohärenzsicherungsmaßnahmen hat sich funktionsbezogen an der erheblichen Beeinträchtigung auszurichten, derentwegen sie ergriffen werden. Der Funktionsbezug ist das maßgebliche Kriterium nicht nur zur Bestimmung von Art und Umfang der Kohärenzsicherungsmaßnahmen, sondern auch zur Bestimmung des notwendigen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs zwischen der Gebietsbeeinträchtigung und den Maßnahmen. Für die Eignung einer Kohärenzsicherungsmaßnahme (im Gegensatz zu Schadensbegrenzungsmaßnahmen) genügt es, dass nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand eine hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Wirksamkeit besteht. Bei der Entscheidung über Kohärenzsicherungsmaßnahmen verfügt die Planfeststellungsbehörde über eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative (Rn. 199, 201-202).

EuGH, Urteil vom 13.12.2007, Rechtssache: C-418/04

Für eine Genehmigung trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung nach Artikel 6 Absatz 4 der FFH-Richtlinie gehört neben fehlenden Alternativmöglichkeiten und dem Umstand, dass zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses die Durchführung des Vorhabens erfordern, auch, dass alle notwendigen Kohärenzsicherungsmaßnahmen ergriffen werden. Die Erfüllung der Kohärenzsicherungspflicht ist demnach Tatbestandsvoraussetzung für eine zulässige Abweichungsprüfung (Rn. 260).

BVerwG, Urteil vom 17.01.2007, Aktenzeichen: 9 A 20/05

Mit Blick auf das vom Gemeinschaftsrecht angestrebte strenge Schutzsystem spricht einiges dafür, in dem Erfordernis der Kohärenzsicherung eine Zulassungsvoraussetzung zu sehen und nicht eine bloße Rechtsfolge der Zulassungsentscheidung (Rn. 148).