Methodik und Untersuchungstiefe

Im Folgenden sind Urteilsauszüge und Beschlüsse zu finden, die sich mit allgemeinen und methodischen Fragestellungen zur besonderen Artenschutzprüfung wie beispielsweise Anforderungen an die Ermittlungstiefe einer Bestandsaufnahme sowie Art und Umfang der Artenschutzprüfung befassen.

Hinweis: Die hier dargestellte Entscheidungssammlung stellt eine Auswahl an Rechtsprechung zu den jeweiligen Themenbereichen dar. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Auflistung dient lediglich der Information. Eine eigene Wertung ist hiermit nicht bezweckt. Hervorgehobene Textteile dienen nur der Übersichtlichkeit.

EuGH, Urteil vom 09.06.2011, Rechtssache: C-383/09

Gemäß der FFH-Richtlinie (Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe d) haben die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV (Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen, das jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten verbietet. Die Umsetzung dieser Bestimmung erlegt den Mitgliedstaaten nicht nur die Schaffung eines vollständigen gesetzlichen Rahmens auf, sondern auch die Durchführung konkreter besonderer Schutzmaßnahmen. Desgleichen setzt das strenge Schutzsystem den Erlass kohärenter und koordinierter vorbeugender Maßnahmen voraus. Ein solches strenges Schutzsystem muss also im Stande sein, tatsächlich die Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der in Anhang IV (Buchstabe a) der Habitatrichtlinie genannten Tierarten zu verhindern (Rn. 18-21).

BVerwG, Beschluss vom 28.11.2013, Aktenzeichen: 9 B 14/13

Die Bestandsaufnahme im Rahmen der Artenschutzprüfung kann sich im Schwerpunkt auf planungsrelevante Arten beschränken. Planungsrelevante Arten sind eine naturschutzfachlich begründete Auswahl derjenigen geschützten Arten, die bei einer Artenschutzprüfung im Sinne einer Art-für-Art-Betrachtung einzeln zu bearbeiten sind. Bei den nicht planungsrelevanten Arten - hierzu zählen unstete Vorkommen, wie im Planungsraum ausgestorbene Arten, Irrgäste sowie sporadische Zuwanderer oder Allerweltsarten mit einem landesweit günstigen Erhaltungszustand und einer großen Anpassungsfähigkeit – kann im Regelfall davon ausgegangen werden, dass nicht gegen die Verbote des Bundesnaturschutzgesetzes (§ 44 Absatz 1) verstoßen wird. Das Nichtvorliegen der Verbotstatbestände ist für diese Arten in geeigneter Weise zu dokumentieren; im Ausnahmefall sind die Verbotstat-bestände auch bei diesen Arten zu prüfen, etwa bei Arten, die gemäß der Roten Liste im entsprechenden Naturraum bedroht sind, oder bei bedeutenden lokalen Populationen mit nennenswerten Beständen im Bereich des Plans/Vorhabens (Rn. 20).

BVerwG, Urteil vom 21.11.2013, Aktenzeichen: 7 C 40/11

Ein der Genehmigungsbehörde zugestandener naturschutzfachlicher Beurteilungsspielraum kann sich sowohl auf die Erfassung des Bestandes der geschützten Arten als auch auf die Bewertung der Risiken beziehen, denen diese bei Realisierung des zur Genehmigung stehenden Vorhabens ausgesetzt sind. Für eine Einschätzungsprärogative ist aber kein Raum, soweit sich für die Bestandserfassung von Arten, die durch ein (hier: immissionsschutzrechtlich) genehmigungspflichtiges Vorhaben betroffen sind, eine bestimmte Methode oder für die Risikobewertung ein bestimmter Maßstab durchgesetzt hat und gegenteilige Meinungen nicht mehr als vertretbar angesehen werden können. Die Behörde muss also im Genehmigungsverfahren stets den aktuellen Stand der ökologischen Wissenschaft - gegebenenfalls durch Einholung fachgutachtlicher Stellungnahmen - ermitteln und berücksichtigen. Ob sie diesem Erfordernis genügt, unterliegt in einem sich anschließenden gerichtlichen Verfahren der Überprüfung. Die behördliche Einschätzungsprärogative bezieht sich mithin nicht generell auf das Artenschutzrecht als solches, sondern greift nur dort Platz, wo trotz fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnisse weiterhin ein gegensätzlicher Meinungsstand fortbesteht und es an eindeutigen ökologischen Erkenntnissen fehlt (Rn. 19).

BVerwG, Urteil vom 14.07.2011, Aktenzeichen: 9 A 12/10

Ein Monitoring kann dazu dienen, aufgrund einer fachgerecht vorgenommenen Risikobewertung verbleibenden Unsicherheiten Rechnung zu tragen, die sich aus nicht behebbaren naturschutzfachlichen Erkenntnislücken ergeben, sofern gegebenenfalls wirksame Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Es stellt hingegen kein zulässiges Mittel dar, um behördliche Ermittlungs- und Bewertungsdefizite zu kompensieren (Rn. 105).

BVerwG, Urteil vom 09.07.2009, Aktenzeichen: 4 C 12/07

Der individuenbezogene Ansatz der artenschutzrechtlichen Vorschriften verlangt Ermittlungen, deren Ergebnisse die Behörde in die Lage versetzen, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verbotstatbestände zu überprüfen. Hierfür benötigt sie Daten zur Häufigkeit und Verteilung der geschützten Arten sowie deren Lebensstätten im Eingriffsbereich. Nur in Kenntnis dieser Fakten kann die Planfeststellungsbehörde beurteilen, ob Verbotstatbestände erfüllt sind. Diese Daten verschafft sich die Behörde in der Regel durch Bestandsaufnahmen vor Ort und Auswertung bereits vorhandener Erkenntnisse aus Fachkreisen oder Literatur. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Behörde ein lückenloses Arteninventar zu erstellen hätte. Die Untersuchungstiefe hängt vielmehr maßgeblich von den naturräumlichen Gegebenheiten im Einzelfall ab. Auch Stichproben können daher gegebenenfalls genügen. Ein allgemeinverbindlicher Standard, aus dem sich ergibt, unter welchen Voraussetzungen die Ermittlung und Bestandsaufnahme als artenschutzfachliche Beurteilungsgrundlage ausreicht, besteht nicht.


Bei den Anforderungen an die Ermittlungstiefe einer Bestandsaufnahme besteht ein Unterschied zwischen Habitat- und Artenschutz. Art und Umfang der artenschutzrechtlichen Bestandsaufnahme werden durch die Vorgaben der FFH-Richtlinie gesteuert. Das strenge Schutzregime gilt sowohl für den Habitatschutz als auch für den allgemeinen Artenschutz. Die für den Habitatschutz geltenden Anforderungen können jedoch nicht unbesehen und unterschiedslos auf den allgemeinen Artenschutz übertragen werden. Ein den Anforderungen der FFH-Richtlinie (Artikel 6 Absatz 3 und 4) vergleichbares formalisiertes Prüfungsverfahren kennt der allgemeine Artenschutz nicht. Erforderlich, aber auch ausreichend ist im Rahmen des allgemeinen Artenschutzes eine am Maßstab praktischer Vernunft ausgerichtete Prüfung. Die zuständige Behörde muss sich – anders als im Habitatschutzrecht – gerade keine Gewissheit darüber verschaffen, dass Beeinträchtigungen nicht auftreten werden (Rn. 44 f.).

BVerwG, Urteil vom 13.05.2009, Aktenzeichen: 9 A 73/07

Der sachverständig beratenen Planfeststellungsbehörde steht im Rahmen des Artenschutzrechts insoweit eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zu, die nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich ist. Diese hat sich darauf zu beschränken, ob die Einschätzung der Behörde im konkreten Einzelfall naturschutzfachlich vertretbar ist und nicht auf einem Bewertungsverfahren beruht, das sich als unzulängliches oder ungeeignetes Mittel erweist, um den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden. Von daher ist eine naturschutzfachliche Meinung einer anderen Einschätzung nicht bereits deshalb überlegen oder ihr vorzugswürdig, weil sie strengere Anforderungen für richtig hält. Das ist erst dann der Fall, wenn sich diese Auffassung als allgemein anerkannter Standpunkt der Wissenschaft durchgesetzt hat und die gegenteilige Meinung als nicht (mehr) vertretbar angesehen wird (Rn. 87).

BVerwG, Urteil vom 09.07.2008, Aktenzeichen: 9 A 14/07

Im Rahmen des Untersuchungsumfanges zur Artenschutzprüfung ist die Behörde nicht verpflichtet, ein lückenloses Arteninventar zu erstellen. Der individuenbezogene Ansatz der artenschutzrechtlichen Vorschriften verlangt aber andererseits Ermittlungen, deren Ergebnisse die Planfeststellungsbehörde in die Lage versetzen, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verbotstatbestände zu überprüfen. Hierfür benötigt sie jedenfalls Daten, denen sich in Bezug auf das Plangebiet die Häufigkeit und Verteilung der geschützten Arten sowie deren Lebensstätten entnehmen lassen. Nur in Kenntnis dieser Fakten kann die Planfeststellungsbehörde beurteilen, ob Verbotstatbestände erfüllt sind.

Art und Umfang, Methodik und Untersuchungstiefe (hier: im Rahmen der Planfeststellung) der erforderlichen fachgutachterlichen Untersuchungen zur Ermittlung der artenschutzrechtlichen Betroffenheiten im Planungsraum lassen sich mangels normativer Festlegung nur allgemein umschreiben und hängen maßgeblich von den naturräumlichen Gegebenheiten des Einzelfalls ab. Sie werden sich regelmäßig aus zwei wesentlichen Quellen speisen: der Bestandserfassung vor Ort sowie der Auswertung bereits vorhandener Erkenntnisse und Fachliteratur, die sich wechselseitig ergänzen können. Dabei ist hinsichtlich der Bestandsaufnahme vor Ort zu berücksichtigen, dass es sich um eine Erhebung zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem aufgrund vielfältiger Einflüsse ständigem Wechsel unterliegenden Naturraum handelt und Bestandsaufnahmen vor Ort nur eine Momentaufnahme und aktuelle Abschätzung der Situation von Fauna und Flora im Plangebiet darstellen. Die Planfeststellungsbehörde wird daher regelmäßig gehalten sein, bereits vorhandene Erkenntnisse und Literatur zum Plangebiet und den dort nachgewiesenen oder möglicherweise vorkommenden Arten, zu ihren artspezifischen Verhaltensweisen und den für sie typischen Habitatstrukturen auszuwerten. Solche Erkenntnisse können sich ergeben aus vorhandenen Katastern, Registern und Datenbanken öffentlicher Stellen, in denen über größere Zeiträume hinweg Erkenntnisse zusammengetragen werden, aus Abfragen bei den Fachbehörden und bei Stellen des ehrenamtlichen Naturschutzes, durch Auswertung von gutachtlichen Stellungnahmen aus Anlass anderer Planvorhaben oder aus Forschungsprojekten, schließlich aus der naturschutzfachlichen Literatur im Allgemeinen.

Im Artenschutzrecht hat der Normgeber – anders als in anderen Bereichen des Umweltrechts – bislang weder selbst noch durch Einschaltung und Beauftragung fachkundiger Gremien insoweit auch nur annähernd hinreichende Vorgaben für den Rechtsanwender aufgestellt. Dieser ist daher auf (außerrechtliche) Erkenntnisse der ökologischen Wissenschaft und Praxis angewiesen. Deren Erkenntnisstand ist aber in weiten Bereichen der Ökologie ebenfalls noch nicht so weit entwickelt, dass sie dem Rechts-anwender verlässliche Antworten liefern können. Vielfach handelt es sich um Erkenntnisse von Fachgutachtern aus Anlass anderer Projekte, die jeweils als Beleg für die eigene Einschätzung zitiert werden (Rn. 54, 59, 61 f., 64).

BVerwG, Urteil vom 12.03.2008, Aktenzeichen: 9 A 3/06

Bei der Beurteilung des künftigen Erhaltungszustands von Populationen betroffener Arten ist nicht allein auf die jeweilige örtliche Population abzustellen. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Population als solche, die über das Plangebiet hinaus vorkommt, in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet als lebensfähiges Element erhalten bleibt (Rn. 249).

OVG Magdeburg, Urteil vom 13.03.2014, Aktenzeichen: 2 L 215/11

Hegt eine Behörde Zweifel, ob ein Verstoß gegen das Tötungsverbot vorliegt, muss sie diesen im Genehmigungsverfahren nachgehen und gegebenenfalls eine Bestandserhebung veranlassen, um zu hinreichend gesicherten Erkenntnissen zu gelangen (Rn. 39).